Im ersten Artikel dieser Reihe haben wir über das gut behütete Geheimnis der Bulimie gesprochen – über den zerstörerischen Kreislauf zwischen Essanfällen, Erbrechen, Schuldgefühlen und Kontrolle. Doch wer selbst betroffen ist, weiß: Bulimie ist nicht nur eine Last, sie ist auch eine Stütze. Ein Mechanismus, der kurzfristig hilft, mit Gefühlen und innerem Chaos umzugehen. Eine Strategie, die aufrechterhalten wird, weil sie vermeintlich Halt gibt – obwohl sie gleichzeitig zerstört.
Doch welche Funktionen erfüllt die Bulimie wirklich? Warum ist es so schwer, einfach damit aufzuhören? Und warum fühlt es sich an, als würden Sie nicht mit ihr – aber auch nicht ohne sie leben können?
Die Bulimie als Krücke: Was sie gibt
Bulimie ist oft eine Überlebensstrategie – nicht bewusst gewählt, aber unbewusst eingesetzt. Sie scheint auf den ersten Blick Lösungen für Probleme zu bieten, die sonst keine Antworten haben.
✔ Bulimie ist immer da. Einsamkeit ist ein Gefühl, das viele Betroffene tief in sich tragen. Wenn niemand da ist, wenn Sie sich innerlich leer und verloren fühlen, gibt es immer eine Möglichkeit: den Kühlschrank öffnen, essen, sich füllen. Für einen Moment rückt die Einsamkeit in den Hintergrund.
✔ Sie betäubt Emotionen. Wut, Trauer, Angst – Gefühle, die oft überwältigend erscheinen, werden durch das Essen überdeckt. Während des Essanfalls tritt eine Art Taubheit ein. Danach bleibt das Erbrechen als „Befreiungsschlag“ – als würden Sie alles Belastende wieder loswerden.
✔ Sie gibt das Gefühl von Kontrolle. Wenn das Leben unberechenbar ist, bietet die Bulimie eine Konstante. „Ich habe die Macht über meinen Körper.“ Das Hungern, das Essen, das Erbrechen – all das fühlt sich an wie ein Bereich im Leben, den Sie kontrollieren können, wenn sonst nichts sicher scheint.
✔ Sie schafft Erleichterung. Nach einem Essanfall entsteht oft ein Gefühl von Druck – körperlich und emotional. Das Erbrechen entlastet, lässt für einen kurzen Moment alles leichter erscheinen. Es ist eine scheinbare Lösung – aber eine trügerische.
Die Bulimie als Käfig: Was sie nimmt
So sehr die Bulimie eine Krücke ist – sie ist auch eine Falle. Denn was zuerst hilft, wird mit der Zeit zu einer Spirale, aus der es immer schwerer wird, auszubrechen.
❌ Der vermeintliche Trost wird zur Isolation. Die Krankheit ist ein Geheimnis. Sie lässt Betroffene sich zurückziehen, Kontakte vermeiden, soziale Situationen meiden, in denen sie essen oder entdeckt werden könnten. Was zuerst als Halt erscheint, macht am Ende nur noch einsamer.
❌ Die Kontrolle wird zur Abhängigkeit. Was als Gefühl von Macht beginnt, wird zum Zwang. Die Krankheit bestimmt den Alltag, die Gedanken, das Selbstbild. Essen wird nicht mehr nach Hunger oder Genuss gesteuert, sondern nach Regeln, die immer strenger werden.
❌ Die Entlastung wird zur Belastung. Das Erbrechen befreit nicht wirklich – es zieht nur neue Schuld und neue Selbstverachtung nach sich. Der Körper leidet, der Geist leidet – und das Gefühl der Erleichterung wird immer kürzer.
Vielleicht erkennen Sie sich in diesen Zeilen wieder. Vielleicht wissen Sie genau, was gemeint ist, wenn von der Erleichterung, der Kontrolle, der scheinbaren Sicherheit die Rede ist. Doch wenn Sie ganz ehrlich zu sich sind: Gibt Ihnen die Bulimie wirklich Halt – oder nimmt sie Ihnen nach und nach, was Sie sich eigentlich wünschen?
Was wäre, wenn es einen anderen Weg gäbe? Einen Weg, der Sie nicht zerstört, sondern wirklich trägt?
Vielleicht ist es Zeit, sich diese Fragen zu stellen. Und vielleicht – ganz vielleicht – erlauben Sie es sich, eine neue Antwort zu finden.
Schön, dass Sie hier sind.
Ihre Stefanie Trilling
Praxis für ganzheitliche Psychotherapie – Düsseldorf